Veranstaltungsbericht: Historische Argumente zur Legitimation von Kriegen - Am Beispiel der Ukraine

Am 16.01.2023 veranstaltete die Hochschulgruppe für Außen- und SIcherheitspolitik Halle einen Vortragsabend mit dem Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel.

 

Schon eine gute Viertelstunde bevor es pünktlich um 18.30 losgehen sollte, waren die digitalen Reihen der Zuhörerschaft für den Vortrag des Potsdamer Professors für Militärgeschichte und die Kulturgeschichte der Gewalt, Dr. Sönke Neitzel, reichlich gefüllt. Angeregt in ein Gespräch mit dem gut aufgelegten Professor versunken, fanden sich dann bis zum Start  über 80 Gäste ein. 

 

Ein voller Erfolg also, und das bereits, bevor die ersten offiziellen Worte gesprochen waren. Da Herr Prof. Neitzel jedoch an diesem 16. Januar nicht nur für die HSG Halle von Interesse war, sondern am selben Abend noch anderweitig eingespannt war, galt es, keine Zeit zu verlieren: Nach einer knappen Vorstellung des Referenten, eröffnete dieser mit einem komprimierten, etwa 20 minütigen Impulsvortrag, um alle Hörer auf denselben Stand der Diskussion zu bringen.

 

Der Vortrag fand entlang dreier Linien statt: Zum einen ging Prof. Neitzel auf Deutschland ein, dessen Selbst- und Geschichtsverständnis entscheidend durch den Zweiten Weltkrieg und den aus diesem gezogenen Lehren geprägt sei. Konkret meine dies, so Neitzel weiter, dass Deutschland nie mehr Täter werden und nie mehr Alleingänge wagen wolle. So sei eine postnationale Kultur im Selbstverständnis Deutschlands enthalten. Diese bediene sich eines explizit pazifistischen Vergangenheitsverständnisses. Entsprechend sei vor diesem Selbstverständnis das Zögern zu den Panzerlieferungen an die Ukraine zu verstehen.

 

Zum Zweiten stellte Prof. Neitzel dem das russische, spezieller, das putinsche Geschichtsbild gegenüber: Dieses sei entstanden durch eine, die liberale Entwicklung der russischen Geschichtswissenschaft in den 1990ern unterbrechende, Renationalisierung historischer Diskurse in Russland. Es fuße insbesondere auf einem geradezu mythischen Kult um die während der russischen Geschichte immer wieder erbrachten Selbstopfer und der Heroisierung des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Im Ergebnis führe diese Konstruktion einer heldenhaft-opferbereiten russischen Nation dazu, der Ukraine (und ggf. auch anderen postsowjetischen Staaten) und ihren Bewohnern den Rang eigenständiger Nationalität abzusprechen. Durch den, für westliche Beobachter recht beliebig wirkenden Rückgriff auf einzelne, sich widersprechende historische Figuren, wie Stalin, Peter den Großen oder Zar Nikolaus II., und Konzepte, wie den Zarismus oder die Weltmachtrolle der Sowjetunion, träten unweigerlich Widersprüche auf. Diese müssten aber, so Prof. Neitzel, nicht aufgelöst werden. Stattdessen sei für das Regime Putin nur wichtig, wie gut der jeweilige Mythos, oder die jeweilige Erzählung verfange. Und letzteres sei durch die Abhängigkeit der russischen Presse und des Fernsehens vom Kreml weitestgehend gegeben.

Zuletzt ging Prof. Neitzel dann noch auf China und sein Verhältnis zu Taiwan ein. Dabei verwies er auf die in weiten Kreisen in China als ohnmächtig und schmachvoll empfundene Zeit zwischen den 1840ern (der Zeit der Opiumkriege) und den 1940ern (dem Ende des seit den 1920er Jahren tobenden Bürgerkriegs), die von außenpolitischer Schwäche, innerer Zerrissenheit und z.T. auch ausländischen Teilbesatzungen geprägt war. Vor diesem Hintergrund werde die offiziell vom chinesischen Staat ausgegebene Leitlinie 2049, also wiederum hundert Jahre später, (erneut) eine wiedervereinte Weltmacht zu sein, verständlich.

 

Mit einem Verweis, dass historische Argumente seit der Ratifizierung der UN-Charta, die bekanntermaßen Angriffskriege verbietet, eine neue politische Dimension gewonnen hätten, da seither jedes militärische Eingreifen der Rechtfertigung bedürfe, beendete Neitzel seine Ausführungen und stellte sich den Fragen aus dem Publikum.

 

Diese kamen dann auch zahlreich und breit gestreut: Sowohl der Dualismus von innen- und außenpolitisch wirksamen historisch aufgeladenen Rechtfertigungsstrategien, Putins angenommenes Streben nach dem Verlassen der westlich dominierten Weltordnung, der Einfluss den die russisch-orthodoxen Kirche auf die russische Bevölkerung als auch die Rolle, die besagte Kirche in Putins Herrschaftssystem einnimmt wurden angeschnitten. Zu jedem dieser Themen, und einer ganze Reihe weiterer Ideen, die aufkamen, wusste Herr Prof. Neitzel Wissenswertes zu sagen. Eingedenk der Verpflichtungen des Professors wurde die Veranstaltung knapp eine Stunde nach Beginn beendet. Ein gewisser Teil der Zuhörer blieb danach noch, um in lockerer Runde die Eindrücke und Denkanstöße zu besprechen, die der Vortrag und die Fragerunde mit sich gebracht hatten. Insgesamt bleibt so nicht mehr zu sagen, als Professor Neitzel für seine Zeit zu danken - und zu hoffen, ihn bald mal wieder für eine Veranstaltung begrüßen zu können.